„Von der Qual der Wahl“ – oder: Ansitz, Pirsch und der große Durchbruch
Die ersten Tage im Dezember des vergangenen Jagdjahres waren mit 3°/4°C noch nicht so richtig kalt aber doch schon relativ kühl, weshalb ich meinen Lodenmantel mit auf den nachmittäglichen Ansitz ins heimische Revier meines Schwiegervaters nahm: Nach ein, zwei Stunden wird es kalt und dann ist es gut, wenn man sich etwas über die Beine zu werfen hat.
Um 14:30 Uhr saß ich. Da die breite Wiesenschneise vor mir, auf der sich auch ein Forstweg entlang windet, lehr war und auch das Abglasen der Waldränder auf kein die Schneise betretendes Wild schließen ließ, schlug ich eine Jagdzeitschrift auf und begann einen Artikel über Drückjagden zu lesen. Nach jedem Absatz hob ich meinen Blick, lauschte und wandte mich einerseits enttäuscht, andererseits wissbegierig wieder dem Artikel zu.
Nachdem ich – wie so oft in den vergangenen Wochen und Monaten – auch kurz vor dem Hereinbrechen der Dämmerung noch immer keinen Anblick, dafür jedoch einige weitere Jagdartikel gelesen hatte, überkam mich der Gedanke, abzubaumen, um an der 200m weiter südlich gelegenen Hirschkanzel wieder aufzubaumen. Diese nämlich steht ebenfalls an der Schneise, wird jedoch von einer weiteren, schmaleren Schneise gekreuzt. Und an eben dieser wüten regelmäßig Sauen!
Gedacht, getan: Ich hängte mir mein Fernglas um den Hals und schulterte meinen Mauser-Repetierstutzen. Dann pirschte ich am Waldrand entlang in Richtung Kanzel und der damit erhofften Aussicht auf Erfolg.
Etwa alle 20m ermöglichten mir schmale, dunkle Rückegassen, die der Harvester bei der Holzernte nutzt, den Blick in den ansonsten von dicht bewachsenen Hecken und Sträuchern verborgenen, bergabfallenden Buchenwald. Und gleich am unteren Ende der ersten Rückegasse – ich konnte es kaum glauben – zogen ein fünf Stück umfassendes Kahlwildrudel sowie ein junger Hirsch über den Weg. Ich machte mich also gleich zur nächsten Rückegasse auf. Und tatsächlich, da kamen sie wieder, und dieses Mal verweilten sie auf dem Rückeweg.
Durch das Fernglas konnte ich ein Kalb ansprechen, das ich hätte schießen können.
Das Kahlwild stand ungefähr 160m entfernt. Im Hintergrund verlief etwa 80m weiter die Bundesstraße und in einer Tour blitzten Autolichter auf und wiesen mich still darauf hin, dass ich meine Sache gut machen müsste.
Mir schossen nun eine Menge Gedanken durch den Kopf. Da ich keinen Pirschstock dabei hatte, müsste ich versuchen, vom Kahlwild unbemerkt zum nächsten Baum zu kommen, um dort anstreichen zu können. Und der nächste Baum, der sich dazu anbot, stand sechs, sieben, vielleicht acht Meter entfernt. Das würde gar nicht so leicht werden.
Außerdem machte ich mir Sorgen über die mögliche Bergung des Wildes. Schließlich wurde es zunehmend dämmeriger. Und falls ich es bis zum Baum schaffen sollte, bevor das Kahlwild wieder weiter in den Bestand zog, und das Kalb zur Strecke brächte – was wäre dann? Vermutlich würde es noch eine Todesflucht von vielleicht dreißig, vierzig Metern in den immer dunkler werdenden Bestand machen, wenn der Treffer nicht ganz so gut saß, wären auch mehr Meter drin. Und da sämtliche Nachsuchengespanne der Umgebung an diesem Tag auf einer Drückjagd im benachbarten Revier geladen waren, war ich auf mich allein gestellt. Erst am nächsten Morgen hätte das Kalb nachgesucht werden können. Bis dahin wäre es aber möglicherweise qualvoll verendet oder bereits von Sauen oder Füchsen angeschnitten worden. Nicht zuletzt hätte ich bei gutem Treffersitz und kurzer Todesflucht das Kalb, mit Stirnlampe bewaffnet, vermutlich gefunden, sodass ich es 160m bergaufwärts hätte bergen müssen – vielleicht mehr, vielleicht weniger. Bei einem Kalb, das gut mal 40kg, 50kg auf die Waage bringt, ist das eine Ansage.
Während mir all diese Gedanken durch den Kopf gingen, blickte ich noch einmal am Waldrand entlang in Richtung meines ursprünglichen Ziels – der Hirschkanzel. Und da stand plötzlich eine einzelne, dicke Sau. Direkt vor der Kanzel. Und zu der einen Sau gesellten sich immer noch weitere. Schließlich stand dort vor der Kanzel eine Rotte von vielleicht 15 oder mehr Sauen – Muttertiere, Frischlinge, Überläufer.
Schnell waren meine vorherigen Überlegungen über Bord geworfen. Warum den Schuss auf ein Kalb wagen, das man im besten Fall (guter Treffer, kurze Todesflucht) 160m bergauf hätte schleppen müssen, wenn die Aussicht auf einen oder sogar mehrere Frischlinge bestand, die ich im Gegenüber quasi direkt in den Kofferraum meines PKWs hätte laden können?
Ich ließ das Rotwild also weiter äsen und pirschte mich am Waldrand entlang in Richtung größerer Erfolgsaussicht. Etwa 150m hatte ich vor mir, um Schwarzwild und Kanzel zu erreichen, während sich die Rotte langsam in südlicher Richtung von mir weg bewegte. Ohne dass mich die Sauen bemerkten, erreichte ich ein paar Augenblicke später die Kanzel. Die Rotte war etwa 30m von mir entfernt. Da sie jedoch alle beieinander und hintereinander standen, hatte ich kein freies Schussfeld. Ich musste den Hochsitz erklimmen, um mir – von der Höhe übervorteilt – einen Überblick verschaffen zu können. Auch ein möglicher zweiter Schuss wäre von dort wahrscheinlicher gewesen. Möglichst geräusch- und bewegungsarm versuchte ich also die Leiter zu erklimmen. Den Blick immer fokussiert in Richtung Sauen, die noch immer nichtsahnend in perfekter Distanz verharrten. Gerade als ich die erste Leiterhälfte hinter mich gebracht hatte, geschah das völlig Unerwartete: Es knackte. Krachte. Die Leitersprosse, auf die ich gerade meinen Fuß gestellt hatte, gab nach und ich trat ins Leere. Ich klammerte mich an den Leiterholmen so fest es nur irgend ging und hoffte, nicht auch noch mit dem zweiten Fuß durchzubrechen. Einen ewig dauernden Moment später hatte ich mit fertiggeladener Büchse wieder den festen Boden erreicht.
Die Rotte Sauen hatte sich durch den plötzlichen Krach längst davon gemacht. So trat ich erschrocken, und durch das Erlebte zugleich völlig euphorisiert, meinen Rückweg an.
