Gedanken eines Jungjägers
Montag der 10. Juni 2019. Wir befinden uns am Rande des Schwarzwaldes, eine Wiese an einem Berg mit Blick auf die Rheinebene. 20:45 Uhr, Nebelschwaden ziehen über die Wiese, es regnet leicht. Heute sind nicht viele Tiere und Menschen unterwegs, nur einzelne Eichelhäher kreuzen unseren Blick. 20 Minuten später zerbricht ein Schuss die Stille.
Etwa vor einem Monat legte ich, nach 9 monatigem Schulbesuch, meine Jägerprüfung ab. Stolz nahm ich das Prüfungszeugnis entgegen, nun war ich also endlich Jäger – aber zum Jäger sein gehört mehr. Viel mehr.
Zwei Wochen später saß ich das erste Mal auf dem Ansitz, das erste Mal mit der eigenen Waffe auf einem Feld, welches vorher schon oft von Schwarzkitteln verbrochen wurde. Den Hochsitz hatte ich einige Wochen zuvor mit den beiden Pächtern des Reviers aufgestellt. Nun saß ich hier und fragte mich, was ich hier machen soll. Die völlige Ruhe, die Bewegungslosigkeit, der Mangel an Input – wie schafft man es da wohl nicht einzuschlafen? Diese Gedanken wurden jäh zerrissen: bewegt sich da nicht auf etwa 120m etwas? Das Fernglas wanderte an die Augen: ok, ein Reh. Und es hat etwas zwischen den Lauschern. Da steht er, der Bock. Beim ersten Ansitz..
Kugelfang gegeben, er steht breit. Die Waffe in Anschlag, soll ich? Soll ich nicht? Die Sicherung klickt leise, doch mein Finger bleibt gerade. Soll ich?
Der Bock schaut kurz in meine Richtung, markiert am Ast des alten Kirschbaumes und zieht langsam zurück in den Wald. Das Adrenalin pumpt noch immer in meinen Adern.
Ich habe meine erste Lektion gelernt: wenn du nicht sicher bist ob du schießen sollst, schieße nicht.
In den folgenden Tagen sah ich den Bock nur noch einmal, in Begleitung meiner Frau und ohne meine Waffe. Die restlichen Tage erfreute ich mich am Anblick einer Gaiß, die beinahe jeden Tag vor mir auf der Wiese äste (aus Spaß nannten wir sie eines Tages „Mathilda“) und der Eichelhäher und Buntspechte neben meinem Hochsitz.
So verbrachte ich auch das gesamte Pfingstwochenende auf „meinem“ Hochsitz, jedoch ohne Anblick des Bockes. Am Pfingstmontag beschloss ich dann, meine Frau mit auf den Ansitz zu nehmen – vielleicht bringt sie mir ja Glück.
Um 21:00 Uhr dann eine Bewegung am Kirschbaum. Ich sage leise zu ihr: „das ist Mathilda“ und schaue durch mein Fernglas. Kurzes Schweigen. „Nein. Das ist er!“ flüstere ich. Augenblicklich stellt sich eine Anspannung ein. Ein Blick durch mein Zielfernrohr, ruhig durch atmen. Er steht breit, aber hat das Haupt gesenkt. Er äßt unbekümmert... Das Haupt geht hoch, die Uhr schreibt exakt 21:05 Uhr, als der Schuss sich löst.
Tausend Gedanken rasen innerhalb von Sekunden durch meinen Kopf, völlig verwischt von den durch meinen Körper jagenden Hormonen. Liegt er? Bin ich gut abgekommen? Bitte, lass ihn liegen!
Durch das Zielfernrohr sehe ich seine Läufe schlegeln. „Er liegt… er schlegelt!“ flüstere ich meiner Frau zu. Meine Stimme zittert – mein ganzer Körper zittert. Die ausgestoßenen Hormone schütteln meinen Körper durch wie auf einem Rüttelbrett, ich muss grinsen obwohl mir eigentlich gar nicht nach grinsen zumute ist. Nachladen, im Ziel bleiben… er wird nicht mehr hoch.
Der Weg vom Hochsitz zum Erlegungsort war unerträglich lang, der Blick auf die Stelle wie gebannt. Erst wenige Meter vor dem Kirschbaum sah ich ihn liegen, die Läufe leicht in die Höhe gereckt.
Bin ich gut abgekommen? Er lag im Feuer, aber hat er vielleicht trotzdem gelitten?
Am Stück angekommen nehme ich mit zitternden Händen meinen Hut ab und betrachte mein Werk. Er ist zwar ausgewachsen, aber doch so winzig. Ich habe ein Leben genommen.
Ich lege den Bock auf die Seite, man sieht den Einschuss im Blatt kaum. Still erweise ich ihm die letzte Ehre und verbreche ihn waidgerecht, bevor ich andachtsvoll vor ihm stehen bleibe und den Moment realisiere.
In mir toben Emotionen, deren gleichzeitiges Auftreten ich nicht für möglich hielt. Freude und Traurigkeit, Erleichterung und Bedauern zugleich. Auch noch am nächsten Tag bin ich meiner Gefühle nicht klar.
Ich habe ein Leben genommen, ich habe ein Tier getötet. Der brave Bock trat aus seinem Wald heraus um zu äßen und verlor sein Leben weil ich es so wollte. Weil ich den Abzug betätigte.
Auch schon zuvor aß ich kein Fleisch aus konventioneller Tierhaltung mehr, doch erst jetzt wird mir wirklich bewusst, was es heißt Fleisch zu essen.
Es bedeutet schlicht und ergreifend ein Leben zu nehmen. Ein Leben, das genauso gerne lebt wie wir. Herz, Leber und Nieren liegen nun im Kühlschrank und warten auf die Verarbeitung, den Bock hole ich morgen aus der Kühlkammer.
Mir wird mehr denn je bewusst, wie weit wir uns von unseren Ursprüngen entfernt haben und wie wenig wir unsere Lebensmittel zu schätzen wissen. Ich wünschte mir, dass sich mehr Menschen dieser Verantwortung stellen und den Kontakt zur Natur wieder entdecken würden.
Mein Leben, meine Betrachtung des Lebens, hat sich verändert, ich fühle mich genau an der richtigen Stelle. Ich freue mich schon auf den nächsten Ansitz.

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