Jasmin.. Kitzrettung mal rückwärts
Es ist Anfang Juni 22, die Saison für die Kitzrettung ist bereits in vollem Gange. Jeden Morgen fahren wir an zahllosen frisch gemähten Wiesen vorbei, zahllose schlaflose Nächte stecken in unser aller Knochen. Dieser Tag wird aber anders verlaufen, als gedacht.
Letzte Woche haben wir erstmals von der Rückwärtssuche auf Kitze gelesen und dieses über unsere Statusmeldung, den viele Messengerteilnehmer täglich folgen, geteilt. Es klingelt, ein Anruf von Dennis, einem Jagdgenossen, der schon öfter bei der Suche geholfen hat, schon als dieses noch zu Fuss gemacht wurde. Nahe bei seinem Revier wurde in der Nacht eine Ricke auf der Bundesstraße überfahren.

Sofort fällt die Spinne ins Auge. Die Ricke laktiert und es muss ein Kitz in der Nähe liegen und auf die Rückkehr der Ricke warten. Bis zu 12mal am Tage werden die kleinen Kitze gesäugt. Hierzu geht die die Ricke zu dem Kitz, oder zu den Kitzen, wenn es Zwillinge sind. Ansonsten hält sie sich in sicherer Entfernung auf, um mit ihrer Witterung keine Prädatoren zu den Kitzen zu führen.
Die Sonne steht hoch und scheint unerbittlich, es sind schon 22 Grad und alle Akkus wurden leergeflogen. Keine Chance für unsere Drohnensuche. Wir verabreden uns für den Abend. Andreas, ein Jäger aus dem Revier, fährt mehrfach am Tag hin, kann aber an den benachbarten Wechseln der Unfallstelle kein Kitz finden, oder aber ein Kitzfiepen, oder Klagen vernehmen. Aus Beobachtungen wissen wir Jäger, dass der Radius, in dem sich die Ricke aufhällt, durchaus einmal 150m betragen kann, da kommen schnell 6-7 ha abzusuchende Fläche zusammen. Auf den angrenzenden Getreideschlägen stehen die Ähren nun schon lauscherhoch.
Es ist gegen 20.00h als wir eintreffen, Andreas ist schon vor Ort. War da eben ein leises Fiepen? Wir können es in dem Moment weder klar erkennen, noch folgt ein weiteres. Die Anspannung steigt.
In wenigen Momenten ist unsere Drohne in die Luft und wir versuchen in einem Meer von Wärmesignaturen etwas Brauchbares zu identifizieren. Erst mehrere Überflüge und eine Anpassung des Temperaturbereiches sowie der farblichen Darstellung der Detektion ermöglichen uns dann über verschiedenen Anflugrichtungen in der Abendsonne einen potentiellen Treffen auszumachen. Dennis folgt der Drohne in einen Getreideschlag, etwa 100m von dem Unfallort entfernt und überraschen nah am Wagen.
Per Funk führe ich ihn an den Punkt - “TREFFER!!”
Er meldet sein Kommen per Funk an und wir bereiten eine unserer Kitzkisten vor. Als wir ihn kommen sehen, wie er in den Händen mit Handschuhen und Gras das Kitz trägt, klattschen Andreas und ich uns ab. Klasse, so ein Glück.. Das Kitz ist sehr schwach, das sehen wir sofort.

Wir verstauen gerade den kleine Waisen fachgerecht, als in uns der Zweifel aufkommt, ob es nicht auch ein zweites geben könnte. Nur kurz wägen die zusätzliche Zeit für das Warten gegen das Risiko eines zurückzulassen ab. Also wieder ab in die Luft. Nun ist es viel einfacher den Zweifel auszuräumen, liegen Zwillinge doch selten weiter als 20-25m auseinander. Die Drohne zeigt uns noch unsere Flugbahn von eben an und so sind wir schnell wieder an der Stelle.. Tatsächlich, ganz in der Nähe, aber bisher im Flug unbemerkt, sehen wir nun einen zweiten kleinen Punkt.
Jetzt, wo das Auge sich darauf eingestellt hat, gibt es keinen Zweifel mehr. Da ist Dennis auch schon wieder unterwegs, den Blick auf die schwebende Drohen am Himmel gerichtet.
Das Funkgerät knarzt kurz danach “TREFFER!!!” Andreas und ich strahlen uns an..
Auch dieses zweite Kitz ist eindeutig stark geschwächt, vielleicht etwas stärker als das erste, aber es bestehen keinerlei Zweifel haben, dass beide zu der Ricke gehören müssen. Wir boxen sie gemeinsam ein und bitten unsere

Kitzsuchgruppe mit etwa 20 Mitgliedern uns eilig bei der Suche nach einer Wildtierstation mit zwei Plätzen zu unterstützen. Wenn man tief genug einsteigt, findet man doch überraschend viele Angebote. Leider sind inzwischen viele Stationen bereits ausgelastet und nehmen keine Kitze mehr auf. Wir erreichen wegen der Uhrzeit oft nur einen Anrufbeantworter, hinterlassen aber glücklicherweise überall eine kurze Nachricht und Rückrufnummer.
Wir schauen schon, was alternativ zu tun ist, um sie aufzupäppeln, doch ein Rückruf nach einer Viertelstunde löst alle Sorgen auf. Gerade einmal 20km entfernt ist eine Wildtierstation gelegen und wir erhalten auch gleich erste Hinweise, was zu tun - und fast noch wichtiger, was zu lassen - ist.
Bald darauf sind wir drei mit den beiden Kitzen bei der älteren Dame in Rothenburg, die vor fast vierzig Jahren einen Förster bei der Aufzucht unterstützt hat und die kleine Station unter großer Aufopferung mit Herz und Verstand nach seinem Tod fortgeführt hat. Sie kümmert sich gleich, erklärt uns kurz, was nun geschehen wird und teilt uns mit, dass das erste Kitz es leider nicht schaffen wird.. Es bekommt das Haupt kaum mehr gehoben, für sie ein deutliches Zeichen, dass es die Nacht nicht überstehen wird.
Sie schickt uns los, da sie nun alle Hände voll zu tun haben werde. Alle halbe Stunde bekommen die Kitze 20ml angewärmte Lämmermilch. Die Kitze haben noch etwas getrocknete Nabelschur, sie müssen etwa 48 Stunden alt sein. Fast schon zu jung, um auch nur einen halben Tag ohne Milch zu überstehen.
Sie schließt ohne ein weiteres Wort die Tür und lässt draußen drei gestandene Jäger wie kleine Jungs zurück, in den es tatsächlich etwas drunter und drüber geht. Wir sind unglaublich froh, auch da wir die Verantwortung nun abgegeben haben, und überglücklich, dass das ganze Vorhaben geklappt hat. Es ist spät geworden, doch für eine Bier reicht es noch. Auch wenn der Wecker morgen früh um 3.00h schon wieder klingelt.
Als ich am Morgen nachfrage, erklärt sie mir am Telefon, dass sie das Rickenkitz Jasmin genannt hat, das mache sie so. Vielleicht auch, weil sie mit den Tieren nicht spricht, um sie nicht an Menschen zu gewöhnen und weil sie es für sich so braucht. Inzwischen nehme es schon stündlich 100ml der Milch an. Ich will in einer Pause gerade fragen, da sagt sie, dass das kleine Bockkitz es nicht geschafft habe. Schon nach einer Stunde war es gestorben. Wir können es für den Luderplatz abholen, ansonsten würde sie es für den Fuchs auslegen. Puh, dafür brauche ich etwas.
In unserer Statistik bei der Kitzsuche bekommen alle Kitze, die wir finden und sichern eine Nummer. Nach einem kurzen Bericht beschließen wir im Gruppenchat ihm zumindest eine Nummer zu geben. Es wird in dem Jahr die #68 von 139 Kitzen. Wobei es das einzige bleibt, dass wir verlieren werden.
Die nette Dame zieht die Kitze behutsam, aber sehr distanziert auf, mit dem Ziel diese im kommenden Frühjahr wieder auszuwildern. Wir halten in der Zeit lose Kontakt. Mal spenden wir etwas Kostgeld, mal erhalten wir ein Foto oder eine Nachricht und so überraschend, wie es dazu kam, spielt sich Jasmin in dieser Saison zielsicher in unsere Herzen.
Ende April diesen Jahres -eine neue Saison, die uns nun bis Mitte Juni schon auf 271 Kitze gebracht hat- habe ich dann das Glück aus der Entfernung mit einem Spektiv dabei zu sein, als Jasmin und zwei weitere Kitze das erste Mal durch die hintere Pforte des Geheges in die freie Wildbahn hinaustret
en und neugierig ihre neue Umgebung erkunden, Schritt für Schritt, zunächst sehr ängstlich, dann zunehmend herumtollend.

Von nun an wird die Pforte des Geheges noch für einige Nächte offenstehen bleiben und sie werden noch ein paar Mal zurückkommen, bis sie dann für immer fortbleiben.
Wir alle in unserer Initiative des Hegeringes Tostedt und nun auch Buchholz sind auch im 6. Jahr der Rehkitzsuche immer wieder aufs Neue begeistert. Sei es, wegen dieser wirklich einmalige Gelegenheit der heimischen Natur in dieser Form so nahe sein zu können, etwas Gutes zu tun und fast nebenbei den so wichtigen Dialog zwischen Jägern, Landwirten und Tierschützern mit dieser gemeinsamen Aufgabe zu vertiefen.
